Mordärzte

 

An einem regnerischen Nachmittag im März 1993 wird Kriminalhauptkommissar Bernhard Kluge, Leiter des Fachkommissariats für Tötungsdelikte bei der Kripo Lüneburg, über einen grabähnlichen Erdhügel mit einem vertrockneten, roten Tulpenstrauß informiert. Seine Ermittler erwartet das „makabre Begräbnis“ einer Sex-Puppe, das sich wenig später zu einer Erpressung mit Mord ausweitet. Bei den Recherchen geraten Kluge und seine Leute in ein gefährliches Netzwerk aus dunkelster deutscher Vergangenheit.

 

Ulrich W. Gaertner
ISBN 978-3-945264-06-5
Erscheinungstermin: Juli 2019
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Preis: 15,80 €
Paperback, ca. 460 Seiten, 13 x 21 cm

Ulrich W. Gaertner

… wurde 1943 in Oppeln (Oberschlesien) geboren. Nach Ausbildung zum Buchdrucker trat er in die Schutzpolizei des Landes Niedersachsen ein. Es folgte der Wechsel zur Kriminalpolizei Lüneburg, dem sich eine Ausbildung für den gehobenen Dienst anschloß. Später leitete er das Fachkommissariat für Kapitaldelikte. Darüber hinaus war er Leiter zahlreicher Mordkommissionen und zeitweise auch des Zentralen Kriminaldienstes (ZKD).  
Im Ruhestand besuchte Ulrich W. Gaertner Schreib- und Drehbuchseminare, u.a. bei der Filmschule Hamburg-Berlin. Er begann mit dem Schreiben von Kurzkrimis, die ihren Kern in den Kriminalfällen seines Berufs hatten. Es entstanden u.a. eine achtteilige Kurzkrimi-Serie über eine Rechtsanwältin, ein Kriminalistisches Lexikon für Filmschaffende und ein Drehbuch, angelehnt an eine Krimiserie bei SAT 1.
Nach kurzer schwerer Krankheit ist Herr Ulrich Gaertner am 24.01.2023 verstorben.



Leseprobe


Die Vergangenheit 1938

1.    „Ahnenerbe“

Die hohen Räume des ursprünglich preußischen Stadtpalais, Prinz-Albrecht-Palais, an der Wilhelmstraße 102 der Reichshauptstadt Berlin, früher Vernezobre Palais, nun genutzt von der Forschungseinrichtung Deutsches Ahnenerbe und unterstellt dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, dienten dem SS-Reichssicherheitshauptamt und seinen zahlreichen Abteilungen.
Die Wände waren mit SS-Standarten und Reichsfahnen ausstaffiert, und die aus deutscher Kerneiche hergestellten, raumfüllenden, schweren Arbeitstische waren mit großformatigem Karten- und Bildmaterial und Skizzen bedeckt.
Sechs in schwarze SS-Uniformen gekleidete Männer lauschten stehend, angespannt und diszipliniert den Worten ihrer hohen Vorgesetzten, unterstellt dem persönlichen Stab des Reichsführers SS, der auch die Schirmherrschaft für die geplante Expedition übernommen hatte.
Es waren der SS-Sturmbannführer Dr. Ernst Schäfer und seine SS-Kameraden Karl Wienert, Ernst Krause, Edmund Geer, August Hirt und Bruno Beger. Sie waren die ausgesuchte, stolze Elite für die Reise in das tibetische Hochland des Himalayas.

An der getäfelten Wand, gegenüber dem doppeltürigen, raumhohen Eingangsportal, war das ovale, meterhohe Wappen der Forschungsgemeinschaft „Ahnenerbe“ befestigt, das in Runenschrift dessen Namen wiedergab, und durch ein symbolisiertes Schwert mit einer dreigliedrigen Schlinge in seinem Oval ausgefüllt war. Darunter, wandgroß, die Karte für die neue Expedition mit der eingezeichneten Route.
Schwerpunkt der Besprechungsrunde waren die Pläne zu archäologischen, anthropologischen und historischen Forschungen in dem fernen Erdteil. Letzteres war Thema des Vortragenden, des aus Österreich stammenden SS-Standartenführers Willmer, der Himmlers persönlicher Ratgeber in okkulten, esoterischen und mythologischen Themen und Fragen war und diesen auch in weltanschaulichen Fragen beriet.
Heute, im März des kalten Winters 1938, ging es noch einmal um letzte Abstimmungen für die lange vorbereitete und geheime Forschungsexpedition, die für April 1938 bis Ende 1939 geplant war.
Danach übernahm der hochgewachsene, blonde SS-Brigadeführer Kleinholz, dem als Leiter im Amt VI – Abteilung Ausland – die Gesamtplanung unterstand, die weitere Gesprächsführung. Kerzengerade aufgerichtet stand er vor der Elite des Deutschen Reiches.

„SS-Männer, zeigt, dass Ihr im Glauben an den Führer und im Willen zum ewigen Leben unseres Blutes und Volkes ebenso tapfer, wie Ihr für Deutschland zu kämpfen und nun zu forschen versteht, eure ganze Kraft dem Ziel der Expedition widmet und alles für Deutschlands Größe weiterzugeben willens seid! Auch wenn es Opfer geben wird, denkt daran, dass Ihr Großes leistet. Nur das Schicksal allein weiß, ob Ihr heimkehren werdet.“

Ergriffen beendete er seine Ansprache.
„SS-Männer! Rühren!“ hallte sein Kommando durch den großen Raum. Herrisch wies er den SS-Männern Plätze am großen, rechteckigen Eichentisch zu. Er nahm an der Stirnseite der Tafel Platz, während sich sein Vorredner ihm gegenüber auf einen geschnitzten Lehnstuhl setzte. Zufriedenes Grinsen zog über sein Gesicht, und als Ruhe eingekehrte ergriff Kleinholz die eherne Tischglocke mit dem Hakenkreuz. Mit Verhallen des dröhnenden Tons öffnete sich die doppelflügelige, schwere Eichentür. SS-Anwärter in weißen Ordonnanzuniformen schoben Servierwagen in den Raum. Darauf Geschirre, Gläser und Bestecke sowie Kaltspeisen aus Küche und Keller, Getränke und Tabakwaren.

Die sechs Männer kamen aus dem Staunen nicht heraus.
„SS-Männer, ein dreifaches ‚Sieg Heil‘ auf den Führer des Deutschen Reiches und auf unsere erfolgreiche Expedition!“
Der SS-Brigadeführer schwenkte sein volles Weinglas mit Deutschem Wein vom Rhein. Sechs Männer sprangen auf, und rissen die Arme hoch zum Deutschen Gruß.
„Auf Führer, Volk und Vaterland!“ schallte es durch den Raum.
„Setzt Euch und langt zu, Kameraden! Das ist ein Befehl!“
Auf den Mienen der beiden hohen SS-Führungskader, Organisatoren und Planer der Himalaya-Expedition, zeigte sich ein entspanntes Lächeln. Und die Elite aus der SS-Führungsakademie brauchte nicht weiter aufgefordert werden. Alle waren junge, gesunde und widerstandsfähige Männer im Alter von 24 bis 38 Jahren aus unterschiedlichen Berufen und mit unterschiedlichen Fähigkeiten. So muss eine Gruppe sein, dachte Kleinholz zufrieden. Nicht nur der Siegeswille, auch die Kameradschaft hatte einen hohen Stellenwert in den Eliteeinheiten.
SS-Standartenführer Willmer dachte an den schwierigen Selektionsprozess im Jahr zuvor. Nach der endgültigen Entscheidung für jeden Einzelnen, die sich der Reichsführer SS vorbehalten hatte, geknüpft an unverbrüchliche Treue zum Führer des Deutschen Reiches, wurden die ehrgeizigen Männer in die SS aufgenommen. Von diesem Zeitpunkt an unterstanden sie der eisernen Disziplinargerichtsbarkeit des Reichsführers und dem hohen Druck, nicht versagen zu dürfen. Die hochgesteckten Ziele der Expedition mussten erfüllt werden.
In zahlreichen Besprechungen war das den Männern sehr deutlich gemacht worden. Sie hatten eine vertragsähnliche Abmachung unterzeichnen müssen, deren Präambel besagte, dass die Expedition „im Sinne der Schutzstaffel und des Reichsführers SS“ durchzuführen sei. „Wiederholte grobe Verstöße“ gegen Prinzipien der SS, wie „Gehorsam“, Disziplin“ und „Kameradschaft“, konnten „in einem SS-gerichtlichen Verfahren“ geahndet werden. Was das bedeutete, war jedem klar.
Die Trinksprüche auf den Führer und das Gelingen der Expedition rissen den Standartenführer in die Gegenwart zurück. Der SS-Führer erhob sich.
„Männer der Schutzstaffel, nutzen Sie die Zeit vor Ihrem großen Aufbruch.“
Mit großen Schritten ging er zum Ausgang, im Schlepptau den blonden SS-Brigadeführer.
Die Ordonnanzen rissen servil die geschnitzte Doppeltür auf, ohne von den arroganten Führungskadern wahrgenommen zu werden. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, erhob sich der zukünftige Leiter der Expedition, Sturmbannführer Ernst Schäfer.
„SS-Kameraden, wir sind ausgewählt worden für das Deutsche Reich eine Expedition nach Zentralasien durchzuführen. Und wir werden unsere schwere Aufgabe erfüllen, so wie man es von uns erwartet. Lasst uns darauf anstoßen!“


Die Gegenwart 1993

2.     Schuma-Print Verlag – Der Alte

Der Winter wollte auch an diesem Dienstag, dem 28. März des Jahres 1993, nicht aus der alten Salzstadt Lüneburg weichen. Ein Tag verging wie der andere bei trübem Himmel, Nieselregen oder einzelnen Schneeflocken. In dem alten Barockgiebelhaus mussten schon um vier Uhr nachmittags die großen Kristallleuchter mit den elektrischen Glühbirnen eingeschaltet werden, damit in den Büroräumen des Erdgeschosses der Geschäftsbetrieb weitergehen konnte.
Das alte Haus hatte nach einer aufwendigen Restaurierung vor zwei Jahren etwas vom Hauch der ehemaligen Offizin des ehrwürdigen Buchdruckergewerbes zurückerhalten. In seinem Untergeschoss, mit den großen Backsteinbögen, war das Erbe des einstmals bekannten Verlagshauses untergebracht. Reihen wertvoller Bücher, Folianten und in Leder gebundene zum Teil auch handgeschriebene, bibliophile Kostbarkeiten aus früheren Jahrhunderten. Sie waren der Stolz des Prinzipals am Ende des 19. Jahrhunderts gewesen.

 

An der anderen Wand waren Kupferstiche und zum Teil vergilbte Porträts ernst blickender Männer aneinandergereiht. Es waren die Vorfahren des jetzigen Geschäftsführers, Friedrich-Wilhelm Schumacher, der in einem aufwendigen und kostenintensiven Prozess den Druckerei- und Verlagsbetrieb modernisiert und umstrukturiert hatte. Der Produktionsbereich mit moderner Technik hatte in dem ehrwürdigen Haus keinen Platz mehr gefunden und war an den Stadtrand ausgelagert worden.

Zwei kleinere Druckmaschinen und die Buchbinderei waren für die Herstellung künstlerischer, handwerklicher Druckerzeugnisse erhalten geblieben.
Zwei lange, massive Eichentische standen in der Mitte des ersten Raumes, der mit modernsten Beleuchtungselementen bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet war. Alte, spindelgetriebene Papierpressen mit großformatigen Auflageflächen und scharfe Papierschneider mit schweren Messern in gusseisernen Halterungen ergänzten die technische Ausstattung. Das war das Reich des begabten Handwerkers der „Schwarzen Kunst“. Doch der altertümliche Eindruck täuschte. Moderne Klimatechnik und effizient leise laufende Absaugvorrichtungen sorgten dafür, dass das empfindliche und teure Papier zur Herstellung der aufwendigen Einzeldruckwerke keinen Schaden nahm.

Im zweiten Raum war das Büro eingerichtet. Ein Hochleistungsrechner sowie ein leise summender Laserdrucker mit kombiniertem Faxgerät, stellten das Pendant zur antiquierten Möblierung des Raumes dar.
Der grauhaarige Buchdrucker und Buchbinder in einer Person, Karl-Heinz Nottbohm, wirkte in seinem Arbeitskittel und der dickglasigen Brille wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Wenn es nach dem Willen seines Chefs gegangen wäre, hätte er mit seinen vierundsechzig Jahren längst seine Tätigkeit an den Nagel hängen sollen. Aber der Seniorchef, Ernst-August Schumacher, hatte darauf bestanden, dass er bis zum fünfundsechzigsten Lebensjahr im Betrieb bleiben durfte.
Nottbohm blickte auf seine silberne Taschenuhr, ein Geschenk von diesem. Zum Ärger seines Enkels war der Seniorchef mit seinen 92 Jahren nicht willens, zu seinen Vorfahren heimzukehren. Vielmehr erteilte er dem Enkel bei jeder Gelegenheit „gute Ratschläge“.
Damit konnte dieser nicht gut zurechtkommen. Er war Geschäftsführer geworden, als sein Vater, Ferdinand-Louis Schumacher, 1969 bei einem schweren Verkehrsunfall auf der Bundesstraße 3, zwischen Schneverdingen und Wintermoor, im Fahrzeug verbrannt war.
16.30 Uhr. Endlich Feierabend.
Schwerfällig tappte Nottbohm zum Wandschrank. Die Füße taten weh vom langen Stehen. Er legte den Kittel und die Arbeitsbrille ab und tauschte sie gegen einen dreiviertellangen, grau karierten, längst aus der Mode gekommenen Mantel. Dazu passte eine ähnliche „Schlägermütze“. Auch die braunen Straßenschuhe waren abgetretene Schlorren.
Im Waschraum blieb der große Mann mit den breiten Händen vor dem Spiegel stehen. Er sah ein müdes, faltiges Gesicht mit grauen Haaren. Doch dann dachte er an sein Zuhause unweit an der Bahnlinie nach Lübeck. Dort erwartete ihn seine, für Liebe immer bereite, schweigsame Elzbieta mit dunklen, schulterlangen Haaren und einer perfekten Figur. Geduldig würde sie neben ihm auf dem durchgesessenen Plüschsofa vor dem abendlichen Bildschirm sitzen. Als er sie das erste Mal im Katalog gesehen hatte, war es um ihn geschehen. Auf Bestellung war sie zu ihm gekommen. Ein absoluter Gewinn für sein tristes Alleinsein. Heute wollte er ihr eine besondere Freude machen. Im kleinen Schmuckgeschäft in der Bardowicker Straße hatte er eine Halskette mit einem vergoldeten Medaillon gesehen.
Müde schaltete er das grelle Neonlicht aus. Nur die grüne Kontrollleuchte flimmerte weiter.
Sein Weg führte ihn an den schulterhoch verblendeten Glasscheiben des Büros vorbei. Er winkte. Aber niemand winkte zurück, wie an allen anderen Abenden. Man interessierte sich nicht für den alten Eigenbrötler unten im Gewölbe.
Draußen empfing ihn nasskaltes Märzwetter mit ein paar Regentropfen. Er atmete die frische Luft ein und blieb noch einen Moment stehen, bis sich seine Augen an das Tageslicht gewöhnt hatten. Dann stakste er mit schmerzenden Beinen die Steinstufen hinunter. Elzbieta wird sich bestimmt freuen.


3.    Der Kommissar

Fast zur selben Zeit saß ein paar hundert Meter davon entfernt der Leiter des Fachkommissariats 1, Kriminalhauptkommissar Bernhard Kluge, vor seinem vollen Schreibtisch. Kluge war zuständig für die Bearbeitung von Tötungs-, Brand- und Sexualdelikten.
Er war am Dienstagnachmittag der Letzte im Kommissariat. Sein Ermittlungsteam war durch die Umsetzung von Kriminalhauptkommissar Winfred Scharnhorst verkleinert worden.
Nun konnte er ungestört die ausgehenden Ermittlungsvorgänge durchsehen. Ronda Kubitzke, seine füllige, aber tüchtige Bürokraft, hatte ihm diese um halb vier auf den Tisch geknallt. „Feierabend“ hatte sie gesagt und war gegangen.
Ja, endlich wieder mal pünktlich Feierabend ist gut, dachte Kluge zufrieden. Die aufgeklärte Mordsache, an der er mit einer personell verstärkten Kommission beinahe zwei Monate gearbeitet hatten, lag gerade 10 Tage zurück. Alle Beteiligten waren zum Schluss erschöpft, aber hoch zufrieden gewesen. Es war ihnen gelungen, den Mörder eines jungen Mannes aus der Drogenszene zu überführen, der seinen „Freund“ lebend in einem schwarzen Plastiksack im Neetze-Kanal bei Scharnebeck versenkt hatte. Wir können ein paar ruhige Tage gut gebrauchen. Er zog sich den Aktenkorb heran. Aber erst noch einen Blick in die Lüneburger Tageszeitung.
Auf der Titelseite sprangen ihm fett gedruckte Zeilen über den Krieg auf dem Balkan entgegen. Schon das dritte Jahr wurde dort erbittert gekämpft. Nach Titos Tod drängten die unterschiedlichen Nationalitäten und religiösen Zugehörigkeiten nach Unabhängigkeit vom Reststaat Serbien. Zehntausende von Toten hatte es bisher gegeben, und zahllose Flüchtlinge versuchten in die westlichen Nachbarländer Österreich und Italien zu gelangen.
Er fand im Innenteil einen detaillierteren Bericht und Fotos über Frauen und Kinder, die vor anrückenden Panzern und schwer bewaffneten Soldaten flohen.
Nachdenklich schüttelte er den Kopf. Immer wieder war es die zivile Bevölkerung, die am meisten leiden musste, und ganz oft die Kinder, die von einer Stunde zur anderen ohne Eltern waren. Von Menschenhandel durch gewissenlose Schleuser war die Rede, die mit dem Elend und der Angst viel Geld verdienten.
Er faltete die Zeitung zusammen. Heute Abend muss ich die „Tagesschau“ sehen. Aber noch war es nicht so weit.
Beim Durchblättern der roten Aktendeckel der Staatsanwaltschaft registrierte er, dass leichter Regen an die Fenster schlug. Man müsste in ein warmes, sonniges Land reisen. Er seufzte und griff zu den Ermittlungsberichten seiner Mitarbeiter. Von jedem einzelnen kannte er die Arbeitsmethodik. Seine Gedanken schweiften zurück.
Im Jahr nach dem aufgeklärten Mord im ICE hatte es eine personelle Verschiebung gegeben. Für Winfred Scharnhorst war der jüngere, langhaarige Hauptkommissar Jens Ahlers aufgerückt. Zusätzlich war es ihm gelungen, die engagierte Polizeioberkommissarin Jutta Schneider aus der Polizeiwache herauszulösen. Nach erfolgreicher Hospitation und befristeter Abordnung war daraus zum Jahresbeginn eine ordentliche Versetzung mit Planstellenzuweisung geworden. Das war ein Glücksfall für das Kommissariat.
Doch dann weckten zwei Neueingänge seine Aufmerksamkeit. Der erste bestand nur aus zwei beschriebenen Blättern. Polizeihauptmeister Schill von der Wache berichtete, dass eine Joggerin im Lüner Gehölz auf eine grabähnliche Stelle gestoßen sei. Der Fundort soll sich abseits eines Waldweges befinden und mit verwelkten Blumen bedeckt sein. Eine dreiundzwanzigjährige Frau war auf das „Grab“ gestoßen, als ihr Hund im Gebüsch gestöbert hatte. Schill hatte abgesprochen, dass die Kripo mit ihr die Fundstelle aufsuchen würde. Anschrift und Telefonnummer waren im Bericht enthalten.
Ein eigenartiger Fall. Mitten im von Joggern und Radfahrern frequentierten „Lüner Holz“ eine Grabstelle? Das konnte sich doch nur um einen makabren Scherz handeln. Er las ein zweites Mal, kopierte den Bericht und verteilte ihn in die Fächer der Mitarbeiter.
Das zweite Schreiben war eine Mitteilung der Polizeiinspektion Soltau über einen tödlichen Verkehrsunfall auf der Bundesstraße 3. Dort war auf der Kreuzung bei Schneverdingen der Leichenwagen eines örtlichen Bestattungsunternehmers bei nasser Fahrbahn gegen einen Baum geprallt und dann komplett ausgebrannt. Aus den Fahrzeugresten waren die total verkohlten Leichen zweier Personen, eines Erwachsenen und eines Kindes, geborgen worden. Da die Identität beider Leichen nicht an Ort und Stelle geklärt werden konnte, waren die Ermittlungen an die Kripo Soltau abgegeben worden.
Nichts für uns, nur zur Kenntnisnahme, dachte er beruhigt. Die Kollegen werden damit ordentlich zu tun haben. Gerichtsmedizinische Leichenöffnungen, DNA-Abgleiche, das ganze Programm.
Zufrieden stellte er seinen PC ab, zog sich die Wetterjacke an und überließ sein Büro, Auf der Hude 2, sich selbst. Auf dem Flur waren die Arbeitsgeräusche von Putzfrauen zu hören, die sich durch das Gebäude kämpften. Nun ging es nach Hause zu Elaine, seiner Frau. Er freute sich auf den gemeinsamen Feierabend.