Das Lüneburger Wasserviertel

 

Wo früher Kaufmänner, Schiffer und Fuhrleute aus Nord und Süd zusammentrafen, da pulsiert auch heute das Herz von Lüneburg: rund um den alten Kran am Hafen. Cafés, Restaurants und Gaststätten laden dazu ein, das malerische Wasserviertel ausgiebig zu genießen.
Wer mehr über die eindrucksvollen Gebäude und Straßen wissen möchte, dem bietet dieses reich illustrierte Buch eine informative und unterhaltsame Lektüre. In Bildern, Anekdoten und literarischen Texten treten Geschichte und Gegenwart des Lüneburger Wasserviertels anschaulich, farbig und lebendig vor Augen.



Leseprobe


Die Synagoge

 

Die Geschichte der Juden in Lüneburg reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück. Überliefert ist, dass sie den Bereich der Straße „Auf der Altstadt“ zwischen „Auf der Rübekuhle“ und „Neue Straße“ besiedeln durften. Über den Standort ihrer Synagoge gibt es unterschiedliche Überlieferungen. Von dem sehr gründlichen Chronisten und  Lehrer an der Ritterakademie L.A. Gebhardi (1735‒1803) wurde ihr Bet- und Lehrhaus an der Stelle des Hauses Nr. 39 lokalisiert.1 Auch auf dem unbebauten Grundstück Nr. 48 wird sie vermutet.2 Andere Orte kommen ebenfalls in Betracht. Sicher ist dagegen, dass es nach dem Pestpogrom von 1350 in Lüneburg keine jüdische Gemeinde mehr gab. Aus einem Brief der Herzöge Wenzel und Albrecht von Sachsen und Lüneburg vom 6. Januar 1371 geht darüber hinaus hervor, dass die Juden zuvor nicht auf eigenem, sondern zur Miete auf herrschaftlichem Grund gewohnt hatten. Die Stelle lautet in hochdeutscher Übersetzung erschreckend lapidar: „Auch geben wir und überlassen dem Rat zu Lüneburg alle Häuser mit ihrem Zubehör, in denen die Juden gewohnt haben, in der Judenstraße, und die der Herrschaft gehören, dass sie damit tun und lassen, was sie wollen.“3

Es dauerte bis 1695,4 bevor sich der erste Jude in Lüneburg wieder niederließ. Auch zu dieser Zeit mussten Juden noch grundsätzlich zur Miete wohnen. Ihre Emanzipation war ein langwieriger Prozess, doch ging er Schritt für Schritt voran. Um 1780 war das Lüneburger Patriziat soweit ausgestorben oder verarmt, dass sehr viel mehr Häuser zum Verkauf standen, als Käufer vorhanden waren. Aus diesem Grunde unterstützte der Rat 1784 und 1786 das Gesuch zweier „Schutzjuden“, sich ein Haus kaufen zu dürfen, obwohl Juden der Ankauf von Immobilien nach einer Regierungsverordnung vom 5. Januar 1718 generell verwehrt wurde.5 Am 5. April 1813 nahmen französische Truppen 100 Bürger als Geiseln, darunter auch drei jüdische Honoratioren. Die Franzosen machten diesbezüglich keinen Unterschied. 1827 wird der jüdischen Gemeinde gestattet, ihre Toten auf dem eigenen Friedhof zu bestatten. 1832 wird der erste Jude in den „Neuen Bürger-Club“ aufgenommen, und 1843 werden die drei ersten zu vollwertigen Bürgern Lüneburgs erklärt. Seit ihrer Gründung 1866 gehörten jüdische Geschäftsleute auch der Vollversammlung der Lüneburger Handelskammer (seit 1924 Industrie- und Handelskammer) an. Bankier Marcus Heinemann (1819–1908) nahm schon an der konstituierenden Sitzung am 28. Dezember 1866 als Stellvertreter teil6 und war von 1872–1907 für 35 Jahre ihr Mitglied, von 1883–1907 sogar Stellvertretender Vorsitzender.7 Länger war kein Lüneburger Mitglied der Vollversammlung.

Die Gottesdienste der jüdischen Gemeinde fanden lange Zeit in Privaträumen statt. Am 1. September 1892 wurde endlich der Grundstein zu einer repräsentativen, hoffnungsvoll auf Zuwachs erbauten Synagoge gelegt, die 100 Plätze für Männer und 100 weitere auf der Empore für Frauen bereithielt. Die Gemeinde wünschte nichts sehnlicher als die vollständige Emanzipation und Integration in die städtische Gesellschaft. Der Bankier und Mäzen Marcus Heinemann, der sich um die Stadt auf kulturellem und sozialem Gebiet vielfältig verdient gemacht hat, betraute Stadtbaumeister Richard Kampf mit der Planung und Ausführung des Baues. Äußerlich sollte sich das Gebäude in die Reihe seiner großen neugotischen, an die heimische Tradition angelehnten Bauten einreihen: die Neugestaltung der St. Nicolai-Kirche, die Neubauten des Museums, des Krankenhauses, des Stadtarchivs beim Rathaus (heute: Hansekontor) und anderer. Auch der Innenraum sollte selbstbewusst, schlicht und edel wirken:

„Dem geschichtlichen Gepräge der Stadt Rechnung tragend und in Baustoff und Form an die auf die Jetztzeit überkommene Architektur Lüneburgs anknüpfend, ist das Gebäude mit Rücksicht darauf, daß die Juden schon in frühester Zeit ihre Gotteshäuser in dem gerade herrschenden Baustile des Landes errichteten, in einfachen Formen des gothischen Backsteinbaus gehalten, welcher der Blüthezeit der Stadt entspricht. […] Die innere Ausstattung ist gleichfalls ziemlich einfach gehalten. Sämtliche Thüren, die Balkendecken, die Brüstung der Emporen und die Sitzbänke sind aus möglichst astfreiem Kiefernholze gefertigt […]. Die Kuppel ist durch aufgelegte, gepreßte Sterne aus Messingblech auf blauem Grunde belebt. Trotz der kräftigen Farben der Malerei und der Fenster ist die Gesamtwirkung ruhig. Etwas reicher behandelt ist die Ausschmückung der Estrade.8 Das Allerheiligste enthält einen Schrank aus Eichenholz mit Zierbändern und seidenem Vorhang und ist durch stärkere Verwendung von Gold, und durch Glasursteine hervorgehoben.“9

Die feierliche Einweihung fand unter großer Anteilnahme am 6. Juni 1894 statt. Doch der eindrucksvolle Sakralbau hatte nur 44 Jahre Bestand. Denn durch Verfolgung und Flucht sank die Zahl der Juden von 175 im Jahre 1905 und 114 im Jahre 1933 auf 39 am 1. August 1938.10 Die Gemeindevorsteher sahen sich gezwungen, das Grundstück am 20. Oktober 1938 an die Industrie- und Handelskammer zu verkaufen. Für den Abriss des Gotteshauses mussten sie selbst aufkommen. Nach einem letzten feierlichen Gottesdienst ging die Gemeinde am 23. Oktober auseinander. Bald danach begannen die Abbrucharbeiten, sodass das Gebäude noch vor den Verwüstungen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kein jüdisches Gotteshaus mehr war.11

1989 berichtete der Am Werder ansässige Spediteur Heinrich Wille: Der Vorstand der jüdischen Gemeinde, „die Herren Less, Schickler und Behr [sind] am Abend der Pogromnacht nach Feierabend zu ihm in das Büro gekommen und fragten an, ob er mit seinen Angestellten am gleichen Abend noch aus der Synagoge die Inneneinrichtung (u. a. die Kirchenbänke) herausschaffen, auf einen Transporter laden und am nächsten Tag nach Harburg transportieren könne. Daraufhin schickte Wille seinen Lehrling los, um die in der Nähe wohnenden Arbeiter (Im

Wendischen Dorfe, Am Berge) zu benachrichtigen und heranzuholen. ‚Ich hab mit dem Kutscher zusammen den Möbellastzug zurechtgemacht und (bin) dorthin gefahren zur Synagoge, das war ja bei mir um die Ecke. Ich habe dann auch selbst die Sachen mit eingeladen, wir haben also die Synagoge geräumt … Die sakralen Sachen haben die Juden, soviel ich weiß, selbst weggetragen zu sich nach Hause, oder meine Leute haben die vielleicht am nächsten Tag weggebracht.‘12 Von der Synagoge aus wurde der Transport zum Betriebsgrundstück des Spediteurs zum Bardowicker Wasserweg gefahren. Wille erhielt am nächsten Morgen die Nachricht, dass der Transport nicht nach Harburg gehen könne und verwahrte die Sachen (‚Alles erstklassige Hölzer‘) für längere Zeit auf seinem Lager. Später wurden diese Einrichtungsgegenstände nach Willes Angaben an eine Lüneburger Tischlerei verkauft, zu Fensterrahmen umgearbeitet und ‚schmücken‘ seither manches Lüneburger Bürgerhaus.“13 Über den Verbleib der Thora-Rollen und religiösen Kleinodien ist nichts bekannt.


„Gab es in Lüneburg eigentlich Antisemiten?“ fragte die „Lüneburger Landeszeitung“ am 12. März 1946 und antwortete: „Die jüdischen Familien in Lüneburg teilten das Schicksal aller Juden in Deutschland. Wer nicht früh genug in das Ausland entkommen war, wurde nach Jahren der Schikanen und haßerfüllter Verfolgung endlich deportiert, im Viehwaggon abgeschoben, umgebracht. Es ist heute schwer, Menschen zu finden, die die Schicksale der einzelnen kennen und verfolgen konnten. Immer wieder verläuft die Spur irgendwo im Dunkel …

Keine Hand erhob sich zur Hilfe, konnte Hilfe bringen, auch wenn es Menschen in Lüneburg gab, die sich bis zuletzt ihrer jüdischen Mitbürger annahmen. Sie brachten sie auch im Jahre 194314, als die letzten Angehörigen der in Lüneburg gebliebenen Familien Lengler15, Schickler und Behr von ihrem letzten kümmerlichen Verbleib im Zigeunerlager im Schmaarkamp16 zum Sammeltransport bestellt wurden, zum Bahnhof, wo sie die SS mit den Bleckeder und Uelzener Familien zu zweien antreten ließ. Die Wachen fauchten die Begleiter, die den alten Menschen ihre restliche Habe getragen hatten, an ‚Was wollt Ihr hier? Ihr wollt wohl auch auf Nimmerwiedersehen verschwinden, was? Dann könnt Ihr gleich dableiben!‘

Es bedurfte, wie gesagt, langwieriger und schwieriger Untersuchungen. Ihr Ergebnis, unbeeinflußt von Leidenschaften, ist in wenigen Sätzen gesagt: Es scheint uns ‒ und wir glauben uns da mit den meisten einig, die die Lüneburger Verhältnisse kennen ‒ daß es in der Stadt Lüneburg vor 1933 und auch noch später keinen eigentlichen, aus der Bevölkerung aufsteigenden Antisemitismus gegeben hat. Wohl aber hat es ‒ wie überall ‒ an Mut gefehlt zum Widerstand. Die jüdischen Familien waren in Lüneburg vor 1933 hochangesehen. Ihren jüdischen Bürgern hat die Stadt viel zu danken. Sie waren in der Bevölkerung beliebt. Um so schwerer wirkte sich das Treiben einer ‚aktivistischen‘ Gruppe aus, die sich höheren Orts beliebt machte und wohl auch ‒ im Einzelfall ‒ gut bezahlt hielt.“17

1950 wurde am Ort der Synagoge ein Gedenkstein aufgestellt. 1952 erhielt die jüdische Gemeinde, vertreten durch die „Jewish Trust Corporation for Germany“, das Grundstück zurück. 1955 wurde es noch einmal verkauft, und zwar in zwei Teilen: der an der Kaufhausstraße liegende westliche Bereich an die „Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannover“, die dort, wo die Synagoge vorher stand, das Haus der Superintendentur errichtete. Der östliche Teil wurde an die Stadt veräußert, die ihn brauchte, „um Raum für die Entlastungsstraße [Bockelmannstraße] zu gewinnen.“18 Der Gedenkstein wurde an den östlichen Rand des Synagogengrundstücks versetzt.

Seitdem stand das Mahnmal unscheinbar an der Ecke Reichenbachstraße und Am Schifferwall. Über den Fortgang berichtet der Architekt Carl-Peter von Mansberg bei der Einweihung der neuen Synagogengedenkstätte am 9. November 2018:

„Ich glaube, es war Ende 2010, dass mich Frau Pastorin Griepenkerl und Herr Dr. Jochum von der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit um eine Idee für die mögliche Neugestaltung der Synagogengedenkstätte am Schifferwall baten. Wenig später besprachen wir uns vor Ort an der umgesetzten Stele von 1950 im hinteren, schattigen Teil der wenig ansprechenden, etwas dürftigen Grünanlage, von der Unruhe der Straße bedrängt, so dass wir kaum sprechen konnten. Der Erinnerung einen Raum geben, war das rasch vereinbarte Ziel. Die Stele sollte umschlossen sein, geschützt und bewahrt, und damit auch die Erinnerung an die Zerstörung und an den Geist jener Zeit und das Leid, das daraus erwuchs. Erste Skizzen suchten dafür eine begründete Form. Da geriet noch einmal die zerstörte Synagoge und deren Grundriss in den Blick und daraus abgeleitet der Versuch, den historischen, zentralen Versammlungsraum mit seinen originalen Abmessungen von 7,03 m x 7,03 m im Grundriss abzubilden und mit raumbildenden, etwa mannshohen Wänden zu umstellen. Dazu der Vorraum einschließlich aller Öffnungen nach außen, wiederum den historischen Abmessungen entsprechend, als Puffer und Abtrennung vom Straßen-Raum. Keine Rekonstruktion, auch nicht im Spiel mit Materialien! So sollte der Erinnerung Raum gegeben werden, dem Innehalten, dem Besinnen und dem Nach-Denken, der Trauer und vielleicht auch dem Bereuen?“19

Am 9. November 2018 wurde die Synagogengedenkstätte im Beisein von Nachkommen jüdischer Familien aus Lüneburg feierlich eingeweiht.