Der Lüneburger Expressionist Ernst Lindemann und seine Zeit 1869 - 1943

 

 Zu seiner Zeit war der Maler in Lüneburg eine bekannte Persönlichkeit, deren Stimme Gewicht hatte. Als Kulturkritiker der „Lüneburgschen Anzeigen“ begleitete er zwischen 1900 und 1935 für mehr als drei Jahrzehnte Musik und Theater, Ausstellungen, Vorträge und Lesungen mit seinen Rezensionen.

Als Maler widmete er sich der Landschaft, vor allem der Lüneburger Heide sowie der Nord- und Ostseeküste. Doch „provinziell“ war nur der Gegenstand, nicht der Ausdruck seiner Kunst, nicht die expressionistische Kunstauffassung, mit der er sich auf der Höhe seiner Zeit befand. Der Lüneburger Museumsdirektor Wilhelm Reinecke prophezeite schon 1918 begeistert: „Es wird die Zeit kommen, wo Lindemanns Schöpfungen begehrt sein werden wie heutzutage ein Caspar David Friedrich.“

Während des Nationalsozialismus durfte und wollte Ernst Lindemann nicht ausstellen. Er war der einzige Lüneburger Künstler, der als „entartet“ galt und sich anzupassen weigerte. Ernst Lindemann starb 1943. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten vereinzelte Ausstellungen auf Privatinitiative nicht mehr verhindern, daß sein Werk in unverdiente Vergessenheit geriet. Jetzt wird es wiederentdeckt.

Ernst Lindemann

 

wird am 14. August 1869 in Rahden geboren.  Im Alter von acht Jahren stürzt er und trägt eine Knieverletzung davon. Diese ist so langwierig und schwerwiegend, dass er mit 14 Jahren nach einer tuberkulösen Infektion ein Bein verliert.

Von nun an ist er auf Hilfe angewiesen. Während der langen Zeit der Rekonvaleszenz entdeckt er die Literatur, die ihn sein ganzes Leben begleiten wird, und er beginnt zu zeichnen. In der künstlerischen Betätigung findet er eine Perspektive für sein weiteres Leben.“

1886 beginnt Ernst Lindemann ein Studium an der Kunstgewerbeschule Düsseldorf. 1888 wechselt er an die Königliche Kunstschule zu Berlin. Mit Interesse können ihn in Berlin nur die Unterrichtsstunden in Kunstgeschichte fesseln. „Anregender als der Schulbesuch sind für Ernst Lindemann die Museen und hier vor allem die Begegnung mit den Werken Rembrandts, die ihn zeitlebens faszinieren sollten. Nach einem Jahr verlässt er auch die Berliner Ausbildungsstätte ohne Abschluss.“

Nun scheint ihm Musterzeichnen aussichtsreich. Daher wählt er die Königliche Webe-, Färberei- und Appreturschule in Krefeld als Studienort.



Leseprobe


„Zur Ausstellung Ernst Lindemann im Museum.

Alle Kunst ist Ueberwindung der Natur, Griff hinter alle Sichtbarkeit in jene Tiefen, wo Natur und Ich zusammenrauschen im einen Göttlichen. Solcher Art gestimmt wird man echten Expressionismus, wie ihn Ernst Lindemann darstellt, bejahen müssen. In seinen Bildern offenbart sich einer, der inbrünstiger seine Seele durch Heide und nordische Landschaft schreiten ließ, als all die ‚treuen Diener‘ am Sichtbaren, die nur Rosarotes, Sandweg, sentimentale Birke und allenfalls violettene Schatten so beruhigend ähnlich und verständlich zu machen wissen. – Denn Ernst Lindemanns Bilder sind angerührt von dem unendlich Schweren, dem schmerzlich Monumentalen, Sehnsüchtigen und Dämonischen des Nordens, seinen Weiten, die Schauplatz sind von brandendem Kämpfen des Dunklen um das Licht. Sie sind die Heide, der Norden schlechthin, geschaut und gestaltet in erschütternder Vision. Töricht daher von subjektiv Bedingtem und nur subjektiv Nacherlebbarem zu reden. Diese schreienden Linien und sich aufwühlenden Farben sind notwendig aus der nicht logischen, aber darum um so tiefer verwurzelten Objektivität des Zusammenrauschens von aufgerissener Naturseele und erlebnisträchtigem Ich. Ein ‚Sonnenuntergang‘ (Heinemannsaal) wird eine schreiende Lichtfanfare über dämonisch drachenhaft sich bäumendem Etwas, Schatten oder Wolke, ein Mythos von ungeheuerer Dynamik. Eine ‚Kate‘ (Dasselstube) wächst auf, eins mit den sie überschattenden Bäumen, unwirklich, jenseitig in ihrer graugrünen Einsamkeit. ‚Herbst‘ (Heinemannsaal) wogt, der kämpferische zwischen Sommersüße und Winternot, in seinen verzweifelt glutenden, letztes Leben hinausschreienden Farben über die Unermeßlichkeit. Und eine ‚Heidelandschaft‘ gleitet in verhalten starkem Glühen zwei riesigen blauen Zickzackschatten, Bäumen oder irgend anderem Wesen, entgegen, die wie mythische Gottesaugen schauen.

Oder der grüne Mond leckt mit phosphorner Zunge über Rasen (‚Mondschein‘, Dasselstube) und läßt Bäume gespenstischen Tanz taumeln. Da sanften aus blauer Vase violettene Blumen empor, mit Grün geheimnisvoll trächtig schwerer Mystik, beladen von Gott. Oder es gleiten ‚Fischerboote‘ inmitten von Feuern der Sonne und des Wassers. Schwere Fahrt durch unirdische Träume, das Weh der Einsamen hängt in ihren Segeln. Und wieder die anderen beiden (Heinemannsaal), groß, wikingerhaft, gesteuert von farbigen Geistern, ankernd in fast mystischer Wucht. ‚Wind und Wogen‘ (Dasselstube) werden in ek-
statischer Entfesselung von Rot, Braun, Gelb, Grün zu ungeheuer dynamischer Einheit und Verschlingung gelöst und ineinander gestimmt. Da wächst eine ‚Fabrik‘ (Dasselstube) zur schweren und doch jenseits weisenden Wucht gotischer Dome empor. Ein spukhaftes Haus Alt Lüneburgs sucht mit seiner geduckten Schwere und dem verkrampften Greifen eines armen Baumes letzte Sonne noch aus seinem in ausdrucksstarker Kurve sich bäumenden Dache zu halten. – Immer reiner wird dieser Drang zum Transzendenten, ins Reich jenseits der Dinge, dieses Gotische, formal in den Bildern ausgedrückt, reiner d. h. immer ausschließlicher durch nur malerische Mittel: Farbe und Rhythmik der Linie. In den Bildern größeren Formats letzter Absicht am nächsten, aber auch in früheren, in kleineren, schon im Wesentlichen spürbar: in der Dynamik, der Entstofflichung, dem reinen Schwingen der Seele: So in einigen Bildern im Eingang, dem ‚Dämmerungsschatten‘, dem ‚Weg‘ im Münzkabinett, dem ‚Frühlingsabend‘ (Weiden) im Heinemannsaal und andern. Ein Beweis, wie notwendig die expressionistische Ausdrucksform aus Ernst Lindemann strömte, ein Grund zugleich dafür, daß sie so eigengewachsen und frei von Vorbildern erscheint.“