Die Leuphana Universität Lüneburg als Stätte geschichtlicher
Besinnung
Der Campus der Leuphana Universität hat gravierende Wandlungen erfahren. 1935 errichteten die Nationalsozialisten die Kasernengebäude.
Seit 2017 soll das von Daniel Libeskind entworfene Zentralgebäude zu ihnen einen Kontrapunkt bilden: Anlaß für einen historischen Rückblick und eine Reihe philosophischer Betrachtungen zur
deutschen Geschichte.
Der Hamburger Reformarchitekt, Städtebauer und
Landesplaner Fritz Schumacher (1869–1947) verlebte seine letzten Jahre in Lüneburg. Er war ein philosophischer Geist mit großem Herzen und weitem geistigen Horizont. Seine Betrachtungen
entzündeten sich stets an Wahrnehmungen, die er verstehen wollte. Der zweite Beitrag des Buches zeichnet einige Profillinien seines Denkens nach.
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Dr. Werner H. Preuß
ISBN 978-3-945264-04-1
Erscheinungstermin: Januar 2018
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Preis: 7,50 €
Paperback, ca. 56 Seiten
Leseprobe
Kriegsverbrechen
Kein Krieg ohne Kriegsverbrechen, ohne Raub, Vergewaltigung, Brandschatzung und Mord. Denn im Krieg triumphiert die Gewalt über Recht und Menschlichkeit. Der Angriffskrieg, vielmehr noch der
Vernichtungskrieg führt zahllose Verbrechen mit sich, die von der historischen Forschung im Detail und im Zusammenhang zu ermitteln sind.
Als am 11. März 2017 das Zentralgebäude der Leuphana feierlich eröffnet wurde, thematisierte Professor Dr. Ulf Wuggenig, Dekan des Fachbereichs Kulturwissenschaften, ein Kriegsverbrechen, das
mittelbar mit dem Ort der Universität verbunden ist. Noch während des Festaktes sprühte ein politischer Aktivist den Schriftzug „Osarit“ an eine Wand im Bereich des Haupteingangs. Erinnert werden
sollte an das Massaker von „Osaritschi“, das im März 1944 von Einheiten der 9. Armee in der Nähe von Osaritschi (Ozarichi) in Weißrußland verübt worden ist. Annähernd 50.000 Kinder, Mütter, Alte
und Kranke, die nach dem Abtransport der arbeitsfähigen Bevölkerung zur Zwangsarbeit zurückgeblieben waren, waren von der deutschen Armeeführung dort als „nutzlose Esser“ nach Gewaltmärschen auf
freiem Felde konzentriert und dem Tod durch Kälte, Krankheit, Hunger, Durst und Erschöpfung preisgegeben worden. In weniger als zwei Wochen bis zur Befreiung durch die Rote Armee starben Tausende
von ihnen.
Ingo Deloie hat 2013 am Historischen Institut der „Rheinisch-Westfälischen Technischen-Hochschule Aachen die Magisterarbeit vorgelegt: „‚Nutzlose Esser‘. Die Deportation russischer Zivilisten
durch die Wehrmacht bei Osaritschi im März 1944“. Er kommt zu dem Schluß: „Die Frage, ob sich ein Wehrmachtssoldat bewusst eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht hat, hing davon ab, wo sein
Truppenteil eingesetzt war. Gehörte er zu Einheiten im nördlichen Korpsgebiet, dürfte er kaum den wahren Zweck der Operation gekannt haben. Als Angehöriger der 110. Infanteriedivision […] war er
dagegen hautnah dabei.“ Zur juristischen Frage nach dem Grad der Schuld des Einzelnen gehört die nach seiner Entscheidungsfreiheit: Was lag im Ermessen und im Rahmen der Möglichkeiten eines
Wehrmachtssoldaten? Die Grenzen des völlig entlastenden „Befehlsnotstands“ sind freilich eng gesteckt. Sie setzen bei Weigerung unmittelbare Gefahr für Leib und Leben voraus. Waren die deutschen
Soldaten aber uneingeschränkt Herr der Lage und Herr ihrer Sinne, wie die Propaganda der Nazi-Wochenschauen weißmachen will, oder bedeutete der Krieg nicht auch für sie ein Desaster, das kein
Mensch heil an Leib und Seele übersteht?
Über die Aufstellung und Zusammensetzung der 110. Infanteriedivision berichtet am 2. Juni 1967 der Lokalchronist Herbert Ahlers in der Lüneburger Landeszeitung: „Nach den Feldzügen 1939 gegen
Polen und im Sommer 1940 gegen Frankreich hatte die deutsche Wehrmacht die britischen Truppen zunächst vom Festland verdrängt, faßte Hitler den Entschluß, Rußland anzugreifen. Das Oberkommando
des Heeres hatte daher die Aufstellung von sechs neuen Inf.-Div. befohlen. Dazu gehörte auch die 110. I.D. [Infanteriedivision].
Die 12. I.D. (Mecklenburg) und die 30. I.D. (Schleswig-Holstein) mußten je ein Drittel ihrer Einheiten abgeben. Die personelle Auffüllung (Jahrgang 1920) wurde aus dem Bereich des X. A.K. [10. Armeekorps, norddeutscher Raum] gestellt. Der erste Aufstellungstag war der 1. Dezember 1940. Nachdem die Aufstellung im Februar 1941 beendet war, kam die Division zur Verbandsausbildung nach Munster. Kommandeur der Division war Generalleutnant [Ernst] Seifert.
Als am 22. Juni 1941 – 4.30 Uhr morgens – der Krieg mit Rußland begonnen hatte, war die Division bereits in 70 Transportzügen auf der Fahrt nach Osten.“ Einem anderen Zeitungsbericht vom 13. Mai 1985 ist zu entnehmen, daß ein Teil der „personellen Auffüllung“ 1940/1941 in die Scharnhorstkaserne einberufen wurde.
Das Massaker bei „Osaritschi“ war ein Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht, an dem die 110. Infanteriedivision mitgewirkt hat. Ob Lüneburger Soldaten daran beteiligt waren, ist noch zu
klären. Denn ob von den 1940/1941 in die Scharnhorstkaserne einberufenen Soldaten nach drei Jahren Krieg an der Ostfront noch jemand am Leben und in einer der betreffenden Einheiten eingesetzt
war, die das Massaker von Osaritschi verübten, oder gar als Befehlshaber an dem Verbrechen Anteil hatte, ist ungewiß. Nicht nur das Infanterie-Regiment 47 soll während des Krieges in mehreren
Mobilisierungswellen aus der Scharnhorstkaserne Nachschub an soldatischem „Menschenmaterial“ erhalten haben, auch der „Ersatztruppenteil“ der 110. Infanteriedivision soll hier stationiert gewesen
sein. Wie viele Soldaten im Verlaufe des Krieges ihr angehört haben, ist ungewiß. Die Aufarbeitung des Gedenkorts Scharnhorstkaserne / Leuphana-Campus hat erst begonnen. Jetzt sind Hansestadt und
Universität – die Erben der Geschichte – gefragt, die Erforschung und Dokumentation räumlich und finanziell zu ermöglichen.
Am Wallaufgang am Springintgut steht das Denkmal für die Toten der 110. Infanteriedivision. Im Sommer 1944 wurde sie bei Minsk eingekesselt und vernichtet. Von den zuvor noch etwa 10.500 Soldaten
gelang es nur etwa 300, dem Schlachteninferno zu entkommen. Auf dem Gedenkstein steht: „Es sage keiner, dass unsere Gefallenen tot sind.“ Die Leugnung des massenhaften Todes, dessen beteiligter
Zeuge man war, und die Entrückung des Kriegsgrauens in das klassische Griechenland sind Ausdruck des Versuchs, das Kriegstrauma zu bannen.
Sowohl rechte Geschichtsrevisionisten als auch linke Antifaschisten sehen in diesem Stein ein Denkmal einer – für die einen angemessenen, für die anderen unangemessenen – Heldenverehrung. Darin
sind sich beide Seiten einig, denn das ideologische Vorurteil färbt ihre Wahrnehmung. Doch es ist auch eine andere, realistischere Interpretation des Denkmals für die Toten der 110.
Infanteriedivision möglich:
„Propst Jäger, ehemaliger Pfarrer der Division, erinnerte in seiner Ansprache an die Not und an das Elend der letzten Kriegsjahre, als die in der Lüneburger Heide aufgestellte Division bei
Rückzugsgefechten bis auf ein Restkommando aufgerieben wurde. Er erinnerte daran, daß viele Soldaten der Division fielen oder in Gefangenschaft gerieten, die für eine Anzahl bis zu 12 Jahren
andauerte.
Es war kein Heldenepos, das der jetzt 75jährige, der jetzt nach seinem Willen zum letztenmal bei einem Divisionstreffen sprach, hier darlegte. Er zeigte auf, daß nur durch das kameradschaftliche
Verhalten jedes einzelnen Soldaten die fürchterliche Not jener Jahre überwunden werden konnte. Niemand werde aufhören, der Gefallenen zu gedenken.“ [LZ, 7. Mai 1973] Aber eben: nicht als Helden,
sondern als Täter-Opfer. „‚Unsere gefallenen Kameraden wollten keine Helden sein, und wir, die Überlebenden, auch nicht. Daher dürfen wir sie nicht vergessen.‘ Das unterstrich Pastor Hans
Eberhard Meyer-Buchtin (Bad Schwartau) bei der Kranzniederlegung anläßlich des Traditionsverbands-Treffens der 110. Infanterie-Division am Divisionsehrenmal am Springintgut.“ [LZ, 26. April 1982]
Bis zu dieser Einsicht war für die Soldaten ein langer Weg aus der Leugnung und Verdrängung zurückzulegen, und noch fehlt die Hinwendung zu den Leiden ihrer Opfer. Diesen Perspektivwechsel, das
Hineinversetzen in die Menschen, denen sie den Frieden raubten, die sie mit Krieg überzogen, als „Untermenschen“ erniedrigten, beleidigten, versklavten und töteten, sucht man in den Divisions-
und Regimentsgeschichten vergeblich. Auch in der Berichterstattung über die Veteranentreffen. Der Krieg wird wie ein Mannschaftssport dargestellt, bei dem im Wettbewerb der Nationen die Deutschen
unglücklich unterlagen. Die Redner und Autoren dieser Schriften stilisieren sich selbst zu Tätern, denen es gänzlich an Verbrechenseinsicht mangelt.